Wir brauchen laute Kritik, müssen Demokratie leben

Schon nach einer Woche Quarantäne regiert Innsbrucks grüner Bürgermeister außerparlamentarisch mit dem Notrecht und fordert eine strenge Erziehung der Bevölkerung. Der Präsident der Tiroler Wirtschaftskammer empfiehlt uns, keine dummen Fragen zu stellen, den Mund zu halten und gefälligst solidarisch zu sein - mit den Interessen seiner wirtschaftlichen und politischen Seilschaften. Wir sollen nicht darüber reden, welche Verantwortungsträger mitgeholfen haben, von Tirol aus das Virus in Österreich und Skandinavien zu verbreiten.

Wir sollen nicht darüber reden, weshalb Tirol Spitzenreiter bei den Viruserkrankungen ist und sich als einziges oder erstes Bundesland in Österreich selbst isolieren musste. Wir sollen nicht darüber reden, dass teure Inserate und schöne Worte für Gruppen wie die Handelsangestellten Eigenwerbung sind. Die skandalös niedrigen Löhne sind zu erhöhen, Konzerne wie Rewe haben ein zusätzliches Monatsgehalt als echte Anerkennung zu zahlen.

Die Sozialpartner haben rasch reagiert. Dank Gewerkschaft und Arbeiterkammer wird Betrieben und ArbeitnehmerInnen mit hohen Geldmitteln geholfen. Eine entscheidende Rolle bei der Verteilung der Gelder spielt jedoch die Interessenvertretung auf Unternehmerseite, die Wirtschaftskammer.

Die aktuelle Krise zeigt wie die Krise vor über zehn Jahren: Der Markt reguliert sich nicht selbst, ohne den Staat und gemeinsames solidarisches Handeln funktioniert die Wirtschaft nicht. Irgendwer wird die vielen Milliarden, mit denen wir Steuerzahler Unternehmer und Touristiker retten, bezahlen müssen. Wir sollen nicht darüber reden, dass Unternehmen und Konzerne, wenn es ihnen wieder gut geht, solidarisch sein müssen mit uns. Wieder sollen die Arbeitnehmer und sozial Schwächeren einseitig zur Kasse gebeten werden. Finanzminister Blümel hat bereits Sparpakete angekündigt.

Die allermeisten Menschen, die in Tirol leben, zeigen täglich große Solidarität. Wir brauchen keine Erziehung durch unerzogene Politiker, Multifunktionäre und Liftkaiser. Wir brauchen laute Kritik, gerade in Quarantäne müssen wir Demokratie fordern und leben.

Univ.-Doz. Mag. Dr. Horst Schreiber, 6020 Innsbruck
Leserbrief - Tiroler Tageszeitung, 24.03.2020